Ballett Zürich eröffnet am 1.10. die neue Saison
Endlich wieder eine Ballett-Premiere. Und zwar mit einem sensationellen Programm. Wie die meisten meiner Follower wissen, bin ich absoluter Fan von der kanadischen Choreografin Crystal Pite. Ihr Stück EMERGENCE begeistert mich immer wieder von Neuem. Gespannt bin ich auf ihre Europäische Erstaufführung Angels’ Atlas, die in Kooperation mit dem National Ballet of Canada entstanden ist.
Das dritte Werk vom Star-Choreografen Marco Goecke, ALMOST BLUE wird erstmalig in der Schweiz aufgeführt. Marco Goecke wurde kürzlich vom Magazin tanz zum Choreografen des Jahres ausgezeichnet. Was kann man von einem Ballettabend mehr erwarten…..
Mehr zu EMERGENCE
Meine Kurzkritik von 2018 https://balletloversblog.com/2018/05/16/ein-bienenschwarm-zum-schwarmen/
Kurzgefasst © Webseite Ballett Zürich
Angels‘ Atlas
Crystal Pite zählt zu den gefragtesten Choreografinnen unserer Zeit. Im kanadischen Vancouver leitet sie ihre eigene Formation «Kidd Pivot» und ist heute regelmässig bei den renommiertesten Compagnien der Welt zu Gast. Ihr 2020 vom National Ballet of Canada uraufgeführtes Stücks Angels’ Atlas ist in Koproduktion mit dem Ballett Zürich entstanden und erlebt nun seine europäische Erstaufführung. Darin widmet sich Crystal Pite der Verbindung von Licht und Tanz: Wie die Choreografie ist auch die Bewegung des Lichts quecksilbrig und flüchtig, doch – so die Choreografin – «mit dem Tanz können wir der eigenen Vergänglichkeit etwas entgegensetzen». Jay Gower Taylor und Tom Visser haben für Angels’ Atlas in Zürich ein ausgeklügeltes System zur Steuerung reflektierten Lichts entwickelt. Auf einer Projektionsfläche kreiert es komplexe, malerische Bilder und erzeugt eine verblüffende Illusion von Tiefe und Natürlichkeit.
Am Beginn unseres dreiteiligen Abends steht Crystal Pites umjubeltes, in seiner kollektiven Wucht überwältigendes Stück Emergence, das 2018 in Zürich Premiere feierte. Dafür hat sich die Choreografin vom Kollektivverhalten der Bienen inspirieren lassen und deren Schwarmintelligenz als Modell auf die Kreativität einer Ballettcompagnie übertragen. Tatsächlich scheinen sich die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich in ein Volk von Insekten zu verwandeln.
Einen spannenden Kontrast zu Crystal Pite verspricht die schweizerische Erstaufführung eines neuen Stücks von Marco Goecke. Auf der Basis des klassischen Balletts hat der deutsche Choreograf eine unverwechselbare Bewegungssprache entwickelt, die einem – in ihrer Verbindung aus Nervosität und Raserei – immer wieder auch das Albtraumhafte des Tanzes bewusst macht. In Zürich sorgte Marco Goecke zuletzt mit seinem Ballett Nijinski für Furore. Bevor er als Ballettdirektor nach Hannover ging, verabschiedete er sich 2018 als langjähriger Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts mit dem Stück Almost Blue. Zu emotionalen Songs der Blues- und Gospellegende Etta James sowie der US-amerikanischen Band «Antony and the Johnsons» setzt sich Marco Goecke darin mit Veränderung und Vergänglichkeit auseinander.
Porträt von Crystal Pite (Webseite Ballett Zürich)

Umtost von kosmischen Winden
Das Ballett Zürich eröffnet die neue Saison mit einer aufsehenerregenden Produktion – der europäischen Erstaufführung von Crystal Pites neuem Stück «Angels’ Atlas», das als Koproduktion mit dem Kanadischen Nationalballett entstanden ist. Die Choreografin wagt darin nicht weniger als eine Vermessung des Himmels und des Menschseins in Tanzform. Dorion Weickmann hat mit der Ausnahmekünstlerin gesprochen und beleuchtet in ihrem Porträt ästhetische, persönliche und politische Aspekte ihrer Arbeit.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das oft in den Himmel schaute und sich vom Kosmos und seinen Gestirnen erzählen liess. Manchmal verspürte es dabei einen schwindelerregenden Kitzel. Dann fuhr der Blitz der Erkenntnis in seinen Körper – ein Gefühl, als falle es durch Raum und Zeit. Diese Augenblicke haben das Mädchen beflügelt. Haben es später angespornt, nach den grössten Rätseln zu greifen. Ist nicht jedes Menschenkind klein «im Angesicht der unbeantwortbaren Fragen über Liebe, Tod und die Unendlichkeit»? So steht es in Crystal Pites Notizen zu Angels’ Atlas.
Sacht sinkt ein Nebelrelief hernieder, eine galaktische Wolke, aus der stalaktitenartige Gebilde dem Erdboden entgegenwachsen. So spitz, dass sie die Menschen, die da dicht beieinander kauern, aufzuspiessen drohen. Eine Fata Morgana? Das Himmlische Jerusalem, jenes postapokalyptische Paradies, dessen Kerzenkranz in Kirchenräumen die Zukunft verheisst? Noch liegen die Leiber gefangen im Staub. Als das Licht sie berührt, fährt ferner Atem in sie hinein. Schenkt ihnen Kraft, sich aufzurichten. Auszuschreiten. Fortzugehen. Und doch lösen sich längst nicht alle. Aus dem Dunkel erklingt Engelsgesang. Er hält sie fest. Fest auf der Erde.
Ein Spätsommertag, über Vancouver hängt seit Wochen schon eine Hitzeglocke. Die Wälder brennen. Die Menschen stöhnen und flüchten tief ins Innere ihrer Häuser. Crystal Pite sitzt an ihrem Schreibtisch, die Zoom-Kamera läuft. Über den Atlantik hinweg spricht sie von ihrer Arbeit, der Pandemie, von den Fragen, die uns alle umtreiben: Wie soll, wie kann es weitergehen mit der Welt, mit dem Planeten, den wir sehenden Auges ruinieren? In ihrem Rücken steht eine Tür weit offen, dahinter brütet die Wärme, bohrt sich in Terrassenplatten, Gartenbank und Geländer. In die flimmernde Luft hinein überlegt Pite, was Angels’ Atlas bedeutet: «Engel stehen für das, was wir nicht wissen. Der Atlas für das, was wir wissen. Und das Stück für die Grenze dazwischen.» Das Limit also, das wir gerade permanent überschreiten – in Richtung Abgrund.
Angels’ Atlas, von Crystal Pite vor zwei Jahren fürs Kanadische Nationalballett entworfen und jetzt nach Zürich übernommen, ist ein Wunderwerk an Präzision, gekreuzt mit den Launen des Zufalls. Dramaturgie und Choreografie sind minuziös ausgestaltet. Aber die Lichtarchitektur, die das Geschehen überwölbt, ist ein aleatorisches Spiel. Der Lichtdesigner Tom Visser und Jay Gower Taylor, Pites Bühnenbildner und Lebenspartner, haben die Mechanik über Jahre hinweg ersonnen. Bis sie zum Ausgangspunkt des tänzerischen Grenzgangs wurde, den Pite 2019 unternahm. Und zwar im Zustand totaler Erschöpfung, wie sie freimütig erzählt. Was kein Wunder ist: In zwanzig Jahren hat sie über fünfzig Werke in Szene gesetzt, das Arbeitspensum ist enorm. Seinerzeit kam sie zudem gerade aus einer Mammutproduktion an der Pariser Oper: Body and Soul tastet die Topografie der menschlichen Existenz zwischen Ich und Wir, Körper und Seele ab. Es ist fast eine Art Vorläufer für die Himmelsvermessung, der freilich nichts über die Strapazen verrät, die solche Kreationsprozesse mit sich bringen. Selbst wenn sie Krisen und Konflikte anspricht, fliegt Crystal Pites Stimme hell und klar über den Ozean. Sie ist zugewandt, aufmerksam, offen. Das Aussergewöhnliche ihrer Person spiegelt sich auch im Resonanzraum ihrer Kunst, die nahbar ist, einfühlsam, phantasievoll und kommunikativ. Die Kanadierin ist sichtlich und hörbar verbunden mit dem, was sie tut. Mit den Menschen, die ihr begegnen, den Tänzern, für die sie choreografiert und die stets von ihr schwärmen: «authentisch», «hierarchiefrei», «empathisch», «inspirierend», «hochkreativ und null arrogant». Prädikate wie diese haften ihr an, sind fast schon ein Markenzeichen. Ein Qualitätssiegel, das ihre Werke beglaubigen. Weil sie berühren, vom allerersten Moment. Weil sie beim Zusehen längst verstummte Saiten zum Klingen bringen: Staunen, Mitgefühl, Erkenntnis. Crystal Pites Thema ist die Condition humaine und ihre metaphysische Verankerung. Jenseits aller materiellen, aller dramatischen Aspekte werden ihre szenischen Geflechte von transzendenten Fäden zusammengehalten. Die Choreografie orientiert sich an horizontalen Prinzipien, die geistige Matrix wurzelt in der Vertikale. Kosmische Winde, irdische Fragen – so gesehen ist Angels’ Atlas ein Manifest, das Crystal Pites Ästhetik idealtypisch ausformuliert: Alles ist mit allem verbunden, nichts geschieht ohne Sinn und Hintersinn. Ein Blick auf den musikalischen Anfang genügt. Pjotr Tschaikowski steht für das Ballett, seine Kompositionen sind die Signatur der Klassiker schlechthin. Der Cherubim-Hymnus, den er 1878 schrieb, ist das geistliche Gegenstück: eine Ode auf die Herrlichkeit des Himmels, das Jenseits. Das freilich nur erblickt, wer die sterbliche Hülle verlassen, das Instrument des Tanzes abgelegt hat. Wenn Pite Angels’ Atlas mit Tschaikowskis Sakralchor eröffnet, knüpft sie das tänzerische Traditionsband neu – und anders: Innigkeit statt Spitzenschuhglamour. Gleichzeitig findet ein Akt der Einschreibung statt: Auf den Flügeln der Musik gleitet der vergängliche Körper hinüber in die Ewigkeit. Wer Angels’ Atlas betrachtet und Tschaikowski lauscht, wird im Strom der Gedanken vielleicht noch ein anderes Ufer erreichen, nah gelegen und fern zugleich: Charles Ives’ The Unanswered Question, jene 1908 veröffentlichte Komposition, die wieder und wieder eine einzige Frage in den Klangraum wirft und ohne Antwort bleibt. Kein Geringerer als der choreografische Titan George Balanchine hat Charles Ives’ elegisches Klangmonument 1954 ins Tänzerische verlängert, unter Beibehaltung der Nichtkorrespondenz. Auch Angels’ Atlas stellt die Frage nach dem Schicksal des Menschen, dem Wesen der Menschlichkeit. Aber anders als Balanchine baut Pite sphärische Brücken zwischen Diesseits und Jenseits. Sie denkt Welten zusammen, statt sie auseinanderzudividieren.
Dieses Talent zieht sich durch Crystal Pites Biografie wie durch ihr Schaffen. Seinen Anfang nimmt beides in Terrace, British Columbia. Ein Städtchen mit rund 12’000 Einwohnern, das von der Holzindustrie lebt, aber für Familie Pite – Vater, Mutter, Tochter und Söhne – bald zu klein ist. Nächste Station ist Victoria, wo Crystal Tanzunterricht nimmt und schon bald beginnt, für andere Kinder zu choreografieren. 1988 startet sie in die Profikarriere als Tänzerin am Ballet BC (für British Columbia), zwei Jahre später hebt sie dort ihr erstes Bühnenwerk aus der Taufe. Zudem begegnet sie dem Choreografen, der sie künstlerisch wie kein anderer prägt: Mit der Extremetüde In The Middle, Somewhat Elevated hebt die junge Tänzerin ab in den Orbit von William Forsythe. Mitte der 1990er-Jahre wechselt sie zu seiner Truppe nach Frankfurt am Main. Was handwerkliches Können betrifft, weist ihr der Amerikaner den Weg. Gleichwohl schlägt sie stilistisch eine andere Richtung ein: Wo Forsythe mit lässiger Eleganz das postmoderne Ballettzepter schwingt, emanzipiert sich Pite und arbeitet mit allen Schattierungen der Tanzpalette. Ihre Schöpfungen sind poetisch und politisch. Sie pulsieren organisch, betören mit dichten Tanztexturen und bringen jedes Corps de ballet zurück zu seiner eigentlichen Bestimmung: gemeinsamer Herzschlag, kollektive Atmung.
Noch als Geheimtipp gehandelt, kehrt Pite 2001 nach Kanada zurück und gründet in Vancouver ihre eigene Kompanie «Kidd Pivot» – bis heute Labor ihrer kreativen Ideen. Alljährlich bringt sie eine Neuproduktion heraus, zwei Jahre Vorlauf sind durchaus üblich. Anders verhält es sich im Theaterbetrieb, den sie von Toronto über London bis Zürich inzwischen in- und auswendig kennt – samt Privilegien und Problemen: Die Produktionsbedingungen sind gut, die Probenzeiten kurz, und ein Riesenensemble zu dirigieren, erfordert anderes Geschick und Gespür als für die Handvoll Tänzer, die bei «Kidd Pivot» unter Vertrag sind. Indes hat gerade die überschaubare Grösse des eigenen Teams ein Pionierprojekt begünstigt, das der Choreografin wie ihrem Co-Direktor Eric Beauchesne enorm am Herzen lag: «Kidd Pivot» reist und arbeitet klimaneutral und behauptet sich damit als Vorreiter im internationalen Tourneegeschäft. Was zur Überzeugung einer Künstlerin passt, die Tanz als Universalie begreift – als Stoff, aus dem sich Gesellschaftspanoramen ebenso modellieren lassen wie intime Beziehungsdramen. Als Werkzeug, das Wirtschaftskomplexe erhellen und Weltliteratur übersetzen kann. Exemplarisch für Pites politische Ader steht ihre preisgekrönte, mit dem Royal Ballet London entwickelte Flüchtlingsparabel Flight Pattern (2017) – eine surrealistische und deshalb nur umso wahrhaftigere Reflexion über globale Migration und Menschen, die schutzsuchend über Meere und Kontinente treiben. Auch Betroffenheit (2015) verhandelt eine Tragödie von antiken Ausmassen: den Tod der Tochter, den Co-Autor Jonathon Young erlitten hat. Nie kippt das Trauma ins Pathetische, die Erinnerung in Verklärung. Stattdessen agiert Young inmitten der Tänzerschar von «Kidd Pivot», den grotesken Platzhaltern seiner widerstreitenden Traueraffekte. 2016 entwarf der Schauspieler auch die Sprachpartitur für The Statement, das am Nederlands Dans Theater herauskam. Der Text steuert ein Tänzer-Quartett im Krisenmodus, das die Ursache eines kapitalen Betriebsfehlers aufzudecken sucht – Inquisitionstribunal im Konzernvorstand. Ebenfalls im Tandem haben Young und Pite zuletzt Gogols Revisor (2019) in ein schillerndes Tanzspektakel verwandelt. Dann schlug Corona zu, und die gerade in Amsterdam gastierende Compagnie musste heimreisen, statt Europa zu beglücken. Das war im März 2020. Seitdem hat die Choreografin kein Studio betreten, keine Proben abgehalten, keine Reise angetreten. Bis in den Spätsommer 2021 sass sie in Vancouver fest, mit Mann und zehnjährigem Sohn, der immerhin noch zur Schule gehen und Freunde treffen konnte. War es Vorsehung, war es Zufall – für 2020 hatte Crystal Pite ohnehin ein Sabbatical geplant: Durchatmen, Tempo rausnehmen und den jahrelangen Dauerlauf von Termin zu Termin, von Ort zu Ort, Theater zu Theater unterbrechen. Sie wollte Zeit haben für das Kind, und für neue Projekte. Stattdessen rollte die Pandemie heran: sämtliche Aktivitäten eingefroren, alle physischen Kontakte ausgehebelt. Ein Umstieg auf Digitalformate kam nicht infrage: Ausgeschlossen, so mit Tänzern zu arbeiten! Zumindest für eine wie sie. Pites Kunst lebt von Achtsamkeit, Wahrnehmung, Austausch, von Anwesenheit mit allen Sinnen und ohne Kamerafilter dazwischen. Die Auszeit hat viele Fragen aufgeworfen, hat sie mit dem eigenen Selbst- und Weltverständnis konfrontiert: «What can I bring to the conversation?»: Was ist ihre Rolle als Künstlerin? Jedenfalls nicht, in Aktivismus zu verfallen. Den katastrophischen Zeitläuften setzt sie die Macht der Bilder, der Schönheit wie des Schreckens entgegen: «Die beste Möglichkeit, Menschen zu erreichen, ist, gute Kunst zu machen.»
Unmerklich schiebt sich der Nebelschleier himmelwärts. Eine Theaterewigkeit lang hat er die Menschen begleitet – Liebende, Sterbende, Trauernde, Tröstende, Zweifelnde. Das Leben, es bleibt ein Geheimnis. Magnum Mysterium, das über der Szene schwebt und die Reprisen des Anfangs begleitet: weltumarmende Ports de bras, gedrehte Arabesques. Die letzten Sekunden gehören Mann und Frau. Da ist nichts Trennendes mehr. Nur tiefe Ruhe. Überirdische Vollkommenheit. Das kleine Mädchen, das so gern in die Sterne schaute, pflückt sie heute vom Tanzhimmel. Von der Bühne funkeln und strahlen sie dann in die Herzen der Menschen hinein, die ihren Glanz nicht wieder vergessen. Kein Märchen, sondern die reine Wahrheit über Crystal Pite und ihre Werke. Worte reichen nicht hin, um den Zauber einzufangen.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 85, Oktober 2021.
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Beitragsbild © Probenfoto Ballett Zürich