Wie DER SANDMANN nach Zürich kommt!

Wie wird Tanz aufgeschrieben?

Interview mit Birgit Deharde, freischaffende Choreologin zur Schweizer Erstaufführung „DER SANDMANN“

Birgit Deharde studiert gerade am Opernhaus Zürich „DER SANDMANN“ von Christian Spuck mit dem Ballett Zürich ein. Dieses Ballett wurde am 7. April 2006 mit dem Stuttgarter Ballett uraufgeführt und von Frau Deharde in einer Partitur aufgeschrieben. Ihre Aufgabe ist es nun, den Tänzern in Zürich die Schritte der Originalchoreografie beizubringen. Die Premiere findet am 28. Mai statt. Hier ein kleiner Einblick:

https://youtu.be/1xRpJjfYz-Y

Definition Choreologie:
Choreologie ist eine Tanznotation, bei der Tanzbewegungen in einem System von Notenlinien aufgezeichnet werden. Die Choreologie wurde von dem tschechischen Maler und Musiker Rudolf Benesh und seiner Frau Joan Benesh Ende der 1940er Jahre in England entwickelt und 1955 patentiert.

Birgit, Du warst 2006 beauftragt, die Choreografie der Uraufführung von „DER SANDMANN“ aufzuschreiben. Wie funktioniert das, ein Ballett aufzuschreiben?

Ich war von Anfang an bei allen Proben in Stuttgart mit dabei. Von der 1. Probe an mache ich mir ständig Notizen. Meine Aufzeichnungen enthalten neben den Bewegungen viele Informationen über die Absichten des Choreografen, warum bestimmte Bewegungen so auszuführen sind. Wichtig sind auch die Stimmungen, die kreiert werden sollen. Ich schreibe auch in Worten auf, wie die einzelnen Charaktere definiert sind und welche Anweisungen der Choreograf den Tänzern gegeben hat.

Die Reinschrift findet erst statt, wenn das Stück ganz fertig ist, da es meist noch sehr viele Änderungen gibt – manchmal sogar noch nach der Premiere. Das hängt allerdings stark vom Choreografen ab. Es gibt auch Choreografen, die von Anfang an genau wissen, wie das Ballett aussehen muss und ändern fast nichts mehr. Christian Spuck ändert immer gerne, manchmal sogar nach der Premiere. Diese Änderungen bekomme ich gar nicht mehr mit, da ich dann nicht mehr bei den Proben dabei bin.

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Wie lange hat es gedauert, bis die Reinschrift für „DER SANDMANN“ fertig war?

Das ist schwierig zu sagen. Ich hatte danach gleich noch ein anderes Projekt. Aber alles in allem waren es sicher noch einige Wochen. Jede kleinste Bewegung, jede Gestik und Mimik, Pose und Position, jeder Sprung und jede Drehung muss aufgeschrieben werden. Je genauer die erstellte Partitur ist, umso besser kann ich mit ihr bei einer Wiederaufnahme arbeiten. Da bin ich sehr gewissenhaft, denn jeder Choreologe sollte meine Aufzeichnungen lesen können. Die Partitur geht nach Beendigung des Stücks in den Besitz des Opernhauses über.

Jetzt bist Du nach Zürich gekommen, um „DER SANDMANN“ mit dem Ballett Zürich einzustudieren. Wie können wir uns diesen Prozess vorstellen?

Erst arbeite ich  mit der letzten DVD und prüfe anhand meiner Partitur, was Christian nach Erstellung meiner Reinschrift noch geändert hat.  Diese Änderungen notiere ich in meiner Partitur. Die Vorbereitung dauert sehr lange, da ich die ganze Partitur vorher sehr gut durcharbeite und alle Bewegungen auch wirklich kenne, bevor die Einstudierung mit dem Ballettensemble beginnt.

Was ist Deine Aufgabe bei den Einstudierungen?

Ich studiere die Schritte mit den Tänzern ein, bis sie sitzen. Die Ballettmeister sind dabei und merken sich die einstudierten Bewegungsabfolgen und Schritte, machen sich Notizen oder filmen die Probe. Die Ballettmeister geben das tägliche Training und üben in den anschliessenden Proben die Choreografie mit den Tänzern bis zur Perfektion. Sie machen den Feinschliff. Dabei wird an der Qualität wie Hebungen oder Sprüngen gearbeitet. Während dieser Zeit kann ich weiter an meiner Reinschrift oder meinen Aufzeichnungen arbeiten.

Ist „DER SANDMANN“, den wir in Zürich sehen werden, derselbe wie in Stuttgart?

Nein, Ich glaube nicht, dass es dem Zuschauer auffallen wird, aber ich sehe den Unterschied. Christian hat sehr viel geändert. Nach 10 Jahren sieht er manches anders.  Die Charaktere sind noch klarer. Die Atmosphäre hat er verändert. Sein Bewegungsrepertoire hat sich weiterentwickelt. So ergeben sich sehr viele Änderungen.

Wie schreibst Du die vielen Änderungen mit?

Meist schaue ich bei den Proben eher zu und schreibe wenig auf. Ich merke mir die neuen Schritte. Notizen mache ich mir nach den Proben in meine „Kladde“. Da stecken so viele Informationen drin, die ich während des Probenprozesses im Kopf habe. Die Reinschrift mache ich erst nach der Premiere.

Verliert man bei diesen vielen Änderungen nicht den Überblick?

Das sollte nicht passieren. Sollte doch mal eine Bewegung unklar sein, kommt es auf das Vertrauen des Choreografen zu seiner Choreologin an. Mit Christian geht das sehr gut, denn er vertraut mir, dass ich die Schritte in seinem Sinn anpasse. Für Gruppen-Szenen kann ich leichter und eigenständiger eine Entscheidung treffen, weil ich Christians Änderungen für Formationen kenne, die er bereits eingebaut hat.

Bei Solopartien geht es meist mehr um die Persönlichkeit. Die einzelnen Bewegungen sollen den Charakter verkörpern.

Wie ist die Arbeit mit dem Ballett Zürich?

Die Tänzer helfen sich gegenseitig. Die Ellenbogen werden nicht ausgefahren. Es gibt sogenannte „Anführer“, die unterschwellig, die anderen zurecht weisen, was aber eher produktiv ist. Sie machen deutlich, dass sie keine Lust haben, alles zehnmal zu wiederholen und motivieren die anderen, sich anzustrengen, damit wir zügig weiter kommen. Das ist sehr hilfreich.

Eine Choreologin muss sehr präzise arbeiten. Welche Eigenschaften braucht es noch?

Beobachtungsgabe sowie analytisches Verständnis, aber auch Musikalität, sehr viel Geduld und Durchhaltevermögen, Konzentration und Liebe zum Ballett.

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IRGIT DEHARDE wurde in Bremen geboren und erhielt ihre Tanzausbildung an der Bremer Ballettschule Davenport und der Ballettschule der Hamburgischen Staatsoper. 1994 nahm sie ihr Studium als Choreologin am Institute of Choreology in London auf und wurde 3 Jahre später ans Stuttgarter Ballett engagiert, wo sie 12 Jahre als Choreologie, Ballettmeisterin und choreologische Assistentin tätig war.  Arbeitsprojekte als Gastchoreologin führten Birgit Deharde zum Türkischen Nationalballett, Ungarischen Nationalballett, Ballett der Mailänder Scala, Norwegischen Nationalballett, Finnischen Nationalballett, Lettischen Nationalballett, Staatsballett Berlin und zum Ballett Zürich. Bei Einstudierungen von „Romeo und Julia“, „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Onegin“ arbeitete Birgit Deharde Seite an Seite mit Persönlichkeiten wie Marcia Haydée, Egon Madsen und Richard Cragun. Seit 2009 ist sie als freischaffende Choreologin weltweit tätig. 

 

Autor: ballettlovers

I danced ballet as child, albeit with little success. Despite this, my passion for ballet and dance has carried into adulthood. I still love to watch ballet performances and would love to share my passion with you.

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