Wie kann man Tanz aufschreiben?

Wie funktioniert Tanzschrift?

Die Choreologin Birgit Deharde hat mir während eines Interviews versucht, die Tanzschrift zu erklären. Choreologie ist sehr schwierig zu verstehen und zu erlernen. Es braucht eine lange Ausbildung und viel Erfahrung. Detailtreue, Geduld, Akribie und Vorstellungsvermögen gehören zu diesem Beruf. Ohne professionelle Ballettausbildung fehlen die Grundlagen, denn die Choreologin muss wissen, wie Ballette aufgebaut sind und welche Schrittfolgen getanzt werden.

Was ist Choreologie?
Anders als in der Musik, ist Tanz eine flüchtige Kunst. Erst im 20. Jahrhundert wurden zwei unterschiedliche Tanzschriften zum schriftlichen Aufzeichen von Tänzen erfunden, wobei sich die Benesh Movement Notation durchgesetzt hat. Diese um 1940 erfundene Tanzschrift ermöglicht es, alle vom menschlichen Körper ausführbare Bewegungen festzuhalten. Tanzschrift und Tanznotation meint das gleiche.

Eingetragen werden diese Bewegungen (aber auch Positionen und weitere Informationen) auf Blättern mit Notenlinien. Alle Blätter zusammengebunden ergeben eine Partitur,  (analog der Musik) und das aufgeschriebene Ballett kann so „gelesen“ werden. Solche Partituren sind exakter und verlässlicher als die Erinnerungen von Tänzern, Ballettmeistern und Choreografen. Auch auf Videos oder DVDs sind die Bewegungen und Platzierungen durch Kostüme oder düsteres Licht oft nicht eindeutig erkennbar.

Die Choreologin schreibt alle Schritte und Positionen der Tanzenden eindeutig auf. Somit bleibt für immer die Choreografie im Original erhalten. Die Tänzer nennen diese Dokumentation ihre Bibel, weil dort alles exakt und undiskutierbar aufgezeichnet ist.

Wie werden Schritte aufgeschrieben?
Die Grundlage ist das klassische Ballett. So ist z.B. im klassischen Ballett der Fuss gestreckt, wenn er den Boden verlässt. Auch die Arme sind rund auf der Seite. Für andere, moderne Bewegungen müssen Extra-Zeichen gesetzt werden, die die Abweichungen von der Grundhaltung erläutern. Das ist viel aufwendiger aufzuschreiben und nimmt extrem viel Zeit in Anspruch.

Je voller die Linien sind, desto schwieriger sind sie zu lesen. Auch die Choreologin muss sich in die Partitur einarbeiten und gut vorbereiten bevor die Einstudierung mit dem Ensemble beginnt. So schnell mal in die Partitur schauen und darin wie in einem Buch zu lesen, ist nicht möglich.

Schauen wir uns mal ein einfaches Beispiel an:
Genau wie man es aus der Musik kennt, besteht die Partitur aus Notenlinien und Taktstrichen. Die  fünf Notenlinien entsprechen von oben nach unten Kopf, Schultern, Hüfte, Knie und Füsse des Tänzers. So kann jede nur denkbare Bewegung schriftlich festgehalten werden.

BMN1.jpg
Unknown-1.jpegQuelle: dancewrite.com

Die Tanzschrift wird so dargestellt, dass der Tänzer von hinten betrachtet wird. Die Striche zeigen die Position der Hände und Füsse (Bodenlinie). Die Punkte verdeutlichen, dass ein Fuss vor dem anderen ist.

Einen Bewegungsfluss wird so dargestellt. Der Arme gehen hoch und das rechte Bein geht runter:

24e667a4-5e6e-438c-b860-fe696f24c4f6.jpeg   Quelle: Royal Academy of Dance rad.org.uk

Bodenlinie zeigt „auf Halbspitze“ bei der zweiten Bewegung
unterhalb der Bodenlinie = auf flachem Fussdirekt
auf der Linie = auf Zehenspitze oder Halbspitze
oberhalb der Bodenlinie = auf Spitze

Grundzeichen für die Ebene
horizontale Linien = in der Ebene des Körper
senkrechte Linien = vor der Ebene des KörpersPunkte = hinter der Ebene des Körpers

Bewegungslinien
Einzelnen Positionen werden durch diese Bewegungslinien verbunden. Die Linien zeichnen die Wege, die die Gliedmassen machen.

Eine ganze Seite einer Partitur schaut dann schon ganz verwirrend aus:

PARTITUR

Der oben abgebildete Scan ist eine Seite aus dem „Ball“ im 1. Akt von Anna Karenina. Es sind 9 Paare auf der Bühne, die nummeriert sind. Auf den „stage plans“ sieht man, welches Paar welchen Weg nimmt -inklusive wer wem den Vortritt lassen muss, wenn die Wege sich kreuzen. Auf dem 2. Plan sind die Ankunftspositionen dargestellt. Die Klammer unten, wo „envellopé phrase“ steht, ist eine Phrase von Material, die später nochmal von einer anderen Gruppe getanzt wird, d.h. man muss sie später nicht noch einmal ausschreiben, sondern kann diese Klammern benutzen.

Die Notation korrespondiert mit der Musikpartitur. Die Choreografie wird wie eine Orchesterpartitur dargestellt. Jedem Solisten wird eine eigene Notenzeile zugeordnet und entsprechend beschriftet. Gruppentänze mit synchronen Bewegungen werden in einer Notenzeile notiert. Der erste Solist kommt normalerweise ganz oben und die Gruppen weiter unten. Die Positionen der einzelnen Tänzer oder Gruppen auf der Bühne sind im Stageplan ganz unten vermerkt.

Kann man wirklich alle Bewegungen aufschreiben, beispielsweise auch Hip Hop?
Es geht alles, nur wird es viel komplexer. Sobald der Rumpf nicht mehr senkrecht in der Achse ist, kommen noch weitere  Achsenverschiebungen dazu. Hierfür müssen viele Sonderzeichen gesetzt werden.

Ich muss ehrlich sagen, dass mein Vorstellungsvermögen nicht ausreicht, mir die Tanzschritte vorzustellen. Da bin ich aber nicht alleine. Die meisten Choreografen, Ballettmeister und Tänzer beherrschen die Tanzschrift nicht. Aus diesem Grund werden Choreologen engagiert oder festangestellt.

Dieser Blog ist der erste Teil zum Thema Choreologie. Es folgen noch mehr Informationen über die Arbeit von Birgit Deharde.

Ganz herzlichen Dank an Birgit Deharde für das detaillierte umfangreiche Interview. Sie hat sich viel Mühe gegeben, mir alles mit viel Engagement und Leidenschaft zu erklären.

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B
IRGIT DEHARDE wurde in Bremen geboren und erhielt ihre Tanzausbildung an der Bremer Ballettschule Davenport und der Ballettschule der Hamburgischen Staatsoper. 1994 nahm sie ihr Studium als Choreologin am Institute of Choreology in London auf und wurde 3 Jahre später ans Stuttgarter Ballett engagiert, wo sie 12 Jahre als Choreologie, Ballettmeisterin und choreologische Assistentin tätig war.  Arbeitsprojekte als Gastchoreologin führten Birgit Deharde zum Türkischen Nationalballett, Ungarischen Nationalballett, Ballett der Mailänder Scala, Norwegischen Nationalballett, Finnischen Nationalballett, Lettischen Nationalballett, Staatsballett Berlin und zum Ballett Zürich. Bei Einstudierungen von „Romeo und Julia“, „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Onegin“ arbeitete Birgit Deharde Seite an Seite mit Persönlichkeiten wie Marcia Haydée, Egon Madsen und Richard Cragun. Seit 2009 ist sie als freischaffende Choreologin weltweit tätig. 

Hier die 1. Lektion in Benesh Movement Notation, wenn Ihr mehr wissen wollt.

Einige Defintionen habe ich aus dem Interview von Bettina Holzhausen mit Birgit Deharde „Choreologie – Tanz aufschreiben?“ übernommen.

Here you’ll find the summary in English:
https://balletloversblog.com/2018/02/28/how-do-you-write-a-dance/

Beitragsfoto © Foto: Radowski

Autor: ballettlovers

I danced ballet as child, albeit with little success. Despite this, my passion for ballet and dance has carried into adulthood. I still love to watch ballet performances and would love to share my passion with you.

2 Kommentare zu „Wie kann man Tanz aufschreiben?“

  1. Hat dies auf TravelCultureThoughts rebloggt und kommentierte:
    Dieser wunderbare Beitrag erklärt in einfachen Worten die Benesh Movement Notation – eine Tanz-Schrift-Notation die weltweit Anwendung findet. Für tanzbegeisterte Menschen kann es ganz spannend sein, sich mal in die Grundlagen hinein zu denken.

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  2. Genial. Selbst für Laien verständlich.
    Gerne gebe ich das Kompliment an die Choreologin Birgit Deharde weiter. Sie hat sich über 2 Stunden Zeit genommen und mir genau erklärt, wie sie alle Bewegungen aufschreibt. Ich war auch total fasziniert, dass das überhaupt geht. Da das Interview so intensiv war, habe ich 3 Teile daraus gemacht. Falls es dich interessiert: https://balletloversblog.com/2016/06/02/was-macht-eigentlich-eine-choreologin/ undhttps://balletloversblog.com/2016/05/25/wie-der-sandmann-zum-ballett-zurich-kommt/
    Danke für Dein Interesse an meinem Blog!

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