Schwanensee rekonstruiert von Alexei Ratmansky für das Ballett Zürich
Das Zürcher Ballett zeigt die Originalversion von Schwanensee, die der Star-Choreograf Alexei Ratmansky in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert hat. Schwanensee wird in der Erstfassung von Marius Petipa und Lew Iwanow aus dem Jahr 1895 aufgeführt.
Meine Empfehlung: SEHENSWERT!
Wer aber einen klassischen Schwanensee auf höchstem technischen Niveau mit Schwanenarmen und Querspagat erwartet, wird enttäuscht werden. Die Originalfassung basiert auf Gestik, die Tanzbewegungen sind reduziert, dafür gibt es wunderbare Massenszenen mit tollen Kostümen, Fantasie und Emotionen.
Foto von Gregory Batardon
Unter Ballett-Liebhabern gelten die heute gespielten, klassischen Choreografien von Schwanensee als das Juwel der klassischen Ballettkultur. Die Choreografie und die Musik von Tschaikowski wachsen zu einer Einheit zusammen im Kampf um die wahre Liebe gegen das Böse.
Der weisse Schwan symbolisiert majestetische Ausstrahlung und Würde, Schönheit und Reinheit. Im Gegensatz dazu der schwarze Schwan, der das Dunkle, das Verführerische und die Unauffrichtigkeit verkörpert. Dieses Schwarz-Weiss-Thema wurde in vielen Schwanensee-Interpretationen unterschiedlich ausgearbeitet, weiterentwickelt und natürlich psychologisch analysiert.
Foto von Gregory Batardon
Was unterscheidet also Ratmansky’s Originalchoreografie von diesen Fassungen?
- Die Schwäne sind junge Mädchen, keine Schwäne. Verzichtet wird auf die berühmten Schwanenarme und Schwanenbewegungen.
- Die Handlung wird pantomisch mehr erzählt, weniger getanzt!
- Die Bewegungen sind extrem reduziert. Selten ist der Beinwinkel über 90 Grad. Die TänzerInnen müssen sich sehr zurück nehmen.
- Dafür sind viel mehr Darsteller auf der Bühne: Schwanenkinder, schwarze Schwäne, Hofangestellte – ich habe die Zürcher Bühne noch nie so voll gesehen.
- Herausragend und wunderschön sind die vielen Szenenbilder und Standszenen.
- Es ist eine wahre Kostümschlacht – superschöne Kleider und Tutus mit aufwändigen Accessoires und komplizierten Frisuren.
Was hat mich gestört?
- Es wurde zu wenig getanzt – vor allem der Prinz darf nur im letzten Akt seine berühmten Sprünge zeigen. Auch die Schwanenkönigin, Viktorina Kapitonova, muss sich mehr durch Gestik als durch Tanz ausdrücken.
- Ungewohnt ist besonders die erste Begegnung. Obwohl Viktorina schauspielerisch brilliant die Odette darstellt, wirken die pantomimischen Gesten sehr ungewohnt. Getanzt gefällt mir das besser.
- Die langen Korkenzieher-Zöpfe der Schwäne stören bei den Drehungen.
- Die 6 schwarzen Schwäne zum Schluss fand ich merkwürdig.
Meine Zusammenfassung für Ballettlovers:
Dieser Schwanensee ist sehenswert für alle, die gerne ins Ballett gehen und sich an den tollen Kostümen, dem Bühnenbild und den Tanzdarbietungen erfreuen. Optisch ein Genuss pur!
Für Ballettliebhaber, die Schwanensee technisch perfekt auf höchstem Niveau kennen und darauf sehr Wert legen, müssen sich bewusst machen, dass früher anders getanzt wurde.
Lassen wir uns in die Zeit von 1895 versetzen und geniessen die Inszenierung, wie sie damals war. Anders, aber WUNDERSCHÖN!
Foto von der Facebook-Seite von Alexei Ratmansky
Hier die ausführlichen Kritiken von der NZZ und Oper-Aktuell.info:
Rezension in oper-aktuell.info vom 7. Februar:
Zürich: SCHWANENSEE, 06.02.2016
Ballett in drei Akten | Musik: Peter Iljitsch Tschaikowski | Libretto: Wladimir P. Betischew und Wassili F. Gelzer | Uraufführung: 1. Fassung 4. März 1877 in Moskau, 2. Fassung: 27. Januar 1895 in St. Petersburg | Choreographie: Alexei Ratmansky | Aufführungen in Zürich: 6.2. | 7.2. | 21.2. | 26.2. | 28.2. | 2.3. | 28.3. | 30.4. | 1.5. | 4.5. | 5.5. | 6.5. | 16.5. | 22. 5. 2016
Es ist schon erstaunlich: SCHWANENSEE, das Ballett aller Ballette, Inbegriff des klassischen Handlungsballetts, hat in Zürich eine relativ bescheidene Rezeptionsgeschichte, wie dem sehr informativ gestalteten Programmheft zur diesjährigen Neuproduktion zu entnehmen ist. Erst 1956 kam es zu einer eigenen Produktion (Julius Berger) durch das Ballett des Stadttheaters (nachdem vorher nur Ausschnitte im Rahmen von Gastspielen zu sehen gewesen waren, aber immerhin mit Serge Lifar, 1942!). Beriozoff brachte den SCHWANENSEE ab 1965 beinahe 70 mal, Geoffrey Cauleys düster-romantische Interpretation stand ab 1974 zwei Jahre lang auf dem Spielplan, danach dauerte es 30 Jahre, bis Heinz Spoerli 2005 seine von kühler, geradliniger Ästhetik geprägte Interpretation vorstellte. Alexei Ratmansky hat sich nun für SCHWANENSEE auf eine akribische Spurensuche nach der Originalgestalt dieses Balletts begeben, unzählige Quellen erforscht und versucht, den SCHWANENSEE, wie er ursprünglich gedacht war und 1895 in St. Petersburg quasi zu seiner zweiten Uraufführung kam, in grösst möglicher Authentizität dem Zürcher Publikum zu präsentieren. Um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist einfach nur schön, wunderschön. Das beginnt bei den Kostümen von Jérôme Kaplan (er zeichnet auch verantwortlich für das romantisierende Bühnenbild) mit ihren überaus geschmackvollen und detailverliebten, in leicht gedeckt gehaltenen Pastellfarben konzipierten Trachten und höfischen Kleidern für die Bilder I und III und den Träumen in Weiss für die Bilder II und IV. Die Tutus der Schwäne sind mehrlagig, bauschig, kurz oberhalb des Knies endend (nicht die steifen „Teller“ welche Florence Gerkan für Spoerli entworfen hatte). Für die Männer setzte man auf ausgesprochen enge, das maskuline Gesäss betonende Strumpfhosen.
Für seine Rekonstruktion von Petipas und Iwanows Originalchoreografie hat Alexei Ratmansky in Zürich ausgezeichnete, ja hervorragende Tänzerinnen und Tänzer zur Verfügung, vom diszipliniert und konzentriert agierenden Corps de ballets über die Interpretinnen der kleinen Schwäne (Meiri Maeda, Lou Spichtig, Michelle Willems und der an diesem Abend viel beschäftigten Giulia Tonelli), der grossen Schwäne (Juliette Brunner, Francesca Dell’Aria, Constanza Perotta Altube, Elizabeth Wisenberg) zu den Halbsolisten in den Nationaltänzen im dritten Bild. Bereits der eröffnende Pas de trois mit Yen Han, Giulia Tonelli und dem Benno von Andrei Cozlac zeigte das ausserordentlich hohe Niveau der Truppe. Giulia Tonelli begeisterte in ihrer Variation mit strahlender Anmut und fantastischer Fussarbeit, einer grossartigen Körperspannung bis in die Fingerspitzen. Cozlac imponierte mit weiten, sehr hohen Sprüngen, sauber ausgeführten Batteries. Yen Han glänzte einmal mehr mit ätherisch sauberem Tanz auf der Spitze, sowohl hier im Pas de trois, als auch im Bild drei im Csardas zusammen mit Cristian Alex Assis. Wunderschön in diesem Bild auch die Mazurka und der Neapolitanische Tanz (u.a. wieder mit Giulia Tonelli). In den weissen Akten bestaunte man die Präzision der 24 Schwäne (im letzten Bild waren auch sechs schwarze darunter, auch die wunderbare, vielseitige Giulia Tonelli war wieder mit dabei!).
Manuel Renard imponierte mit raumgreifenden Flügelschlägen als böser Zauberer Rotbart, Filipe Portugal gab einen trotteligen Wolfgang (Erzieher des Prinzen). Nora Dürig agierte mit deutlicher Pantomime als Königinmutter und versuchte ihren Sohn, Prinz Siegfried, zu verkuppeln. Alexander Jones war ein sehr eleganter Siegfried, seine Mimik verriet im ersten Bild eine leicht ironisch abgehobene Hochnäsigkeit. Er wandelte sich dann beim Anblick der Schwäne (und vor allem ihrer Königin Odette) in den schmachtenden Liebhaber. Sehr naiv liess er sich auf die burschikosen, selbstbewussten Verführungskünste von Odile ein und merkte zu spät, dass sie und Rotbart ihn mit Häme und Manipulation zum Narren gemacht hatten. Höhepunkte der Aufführung waren natürlich die beiden grossen Pas de deux von Viktorina Kapitonova (Odette/Odile) und Alexander Jones in Bild zwei und drei. Jones beeindruckte mit seinen weit greifenden, sauberen Sprüngen, den präzisen, sicheren Drehungen, dem weichen Aplomb. Viktorina Kapitonova gelang eine grandiose Interpretation der beiden Rollen: Als Odette erst verschüchtert sich dem Prinzen nähernd, dann in grosser Liebe entbrennend, mit wunderschön weichen Bewegungen und einem perfekten Port de bras tanzend (zur wunderbar gespielten Solovioline von Hanna Weinmeister). Ganz anders dann als Odile: In dem schwarzen, in Spektralfarben oszillierenden Tutu war sie eine herrlich durchtriebene Verführerin, manipulierend und selbst manipuliert durch Papa Rotbart. Ihre Fouettés waren von atemberaubender Präzision und lösten zu Recht einen Begeisterungssturm aus.
Begeistert war das Premierenpublikum von der ganzen Produktion. Ja, es war schön, sehr kulinarisch – und doch etwas blutleer. Man kann nicht sagen, dass dieser rekonstruierte SCHWANENSE museal oder verstaubt gewirkt hätte, wirklich nicht. Aber man vermisste die tiefer schürfende psychologische Durchdringung der Personen und ihrer Handlungsweisen. Vieles wirkte durch die stellenweise sehr antiquiert wirkende Pantomime zu betulich, irgendwie aus der Zeit gefallen. So auch der etwas „dick“ aufgetragene Verklärungs-/Erlösungsschluss.
Zum Glück stiegen die Emotionen aus dem Orchestergraben hoch. Rossen Milanov am Pult der Philharmonia Zürich erzielte exzellente Sogwirkungen.Mitreissende, akzelerierende Tanzrhythmen wechselten mit wunderbar ausschwingenden Phrasen voller Melancholie und Elegie, herrlich trumpfte das Blech auf, prominent hervorgehoben erklangen die Kantilenen der Klarinetten und Oboen, die Soli der Harfe, des Cellos. Es ist schon eine tolle Musik, die der junge Tschaikowski für SCHWANENSEE komponiert hatte und welche an diesem Abend in Zürich so flott interpretiert wurde, inklusive der von Ricardo Drigo instrumentierten Klavierstücke op. 72, welche in diese Aufführung wieder integriert wurden.
Fazit: Schön, wunderschön und mit detailverliebtem Aufwand in Szene gesetzt– technisch brillant getanzt. Vielleicht aus heutiger (und meiner) Sicht etwas blutleer, aber das ist Geschmackssache.
Inhalt:
Der junge Prinz Siegfried soll heiraten. Er aber schätzt seine Freiheit und mag keine Braut wählen, die er nicht liebt. Doch anlässlich seines Geburtstagsfests drängt ihn seine Mutter zu einer baldigen Entscheidung. Als sich die feiernde Gesellschaft verabschiedet hat, bleibt Siegfried alleine zurück und sieht sehnsüchtig einem Schwarm wilder Schwäne nach.
Er folgt den Schwänen zum See. Sein Mentor Rotbart taucht ebenfalls am See auf. Ein Schwan nähert sich und verwandelt sich umgehend in eine schöne Frau, es ist Prinzessin Odette, die einst zusammen mit ihren Freundinnen von Rotbart in Schwäne verzaubert worden ist. Nachts jedoch nehmen sie wieder menschliche Gestalt an. Der Zauberbann kann nur durch ein ewiges, unverbrüchliches Liebesversprechen gebrochen werden. Siegfried beteuert Odette diese Liebe, trotz ihrer Warnungen.
Am nächsten Tag muss Siegfried seine Wahl treffen: Doch keine der anwesenden Prinzessinnen, vermag es, sein Herz zu entflammen. Rotbart ist mit seiner Tochter Odile beim Fest anwesend. Er hat Odile mit seinen Zauberkünsten in ein Ebenbild Odettes verwandelt. Der Prinz ist fasziniert von Odile und tanzt mit ihr. Verblendet hält er um ihre Hand an. Schlagartig wird ihm bewusst, dass er damit sein Versprechen gegenüber Odette gebrochen hat. Er macht sich auf zum See.
Odette ist bei ihren Schwanengefährtinnen. Sie ist entschlossen zu sterben. Rotbart entfacht vergeblich einen Sturm, um Siegfried vom See zurückzuhalten. Siegfried findet Odette und erlangt ihre Verzeihung, doch am gebrochenen Treuegelübde ändert dies nichts mehr. Gemeinsam wollen sie nun sterben.
Werk:
Trotz der schnell wieder abgesetzten Moskauer Uraufführung erreichte Tschaikowskis SCHWANENSEE Kultstatus, ja das Werk wird gemeinhin als DAS Handlungsballett schlechthin bezeichnet und erlangte nach der Uraufführung der zweiten Fassung in der Choreographie von Marius Petipa schnell eine Verbreitung über alle relevanten Tanzbühnen. An der Musik kann es also nicht gelegen haben, dass das Werk nicht schneller seinen Siegeszug antrat. Tschaikowski war zwar noch relativ jung (35 Jahre alt), als er mit der Komposition begann, doch hatte er bereits drei Sinfonien, ebenso viele Opern und zahlreiche Kammermusik komponiert. Vielmehr lag der Flop darin begründet, dass die Compagnie in Moskau den enormen technischen Ansprüchen nicht genügte. Die Komposition wurde zudem immer wieder durch Einschübe werkfremder Musik entstellt. Auch heute noch kann man den SCHWANENSEE nicht ohne Kürzungen auf die Bühne bringen, da das gesamte, von Tschaikowski stammende, Material das Ballett auf TRISTAN-Länge ausdehnen würde. Nach Tschaikowskis Tod 1893 erinnerte man sich wieder des Werks, führte zunächst den Schwanenakt isoliert auf und hievte schliesslich mit Hilfe des Dirigenten Riccardo Drigo (welcher die Partitur bereinigte) und der beiden Choreographen Lev Ivanov und Marius Petipa eine Fassung auf die Bühne, an welcher sich auch heute noch viele berühmte Choreographen orientieren.
Die beiden Hauptrollen stellen an die Tänzerin und den Tänzer enorme technische und darstellerische Anforderungen; es ist seit der Petersburger Produktion üblich, dass die Primaballerina beide Rollen (Odette, der weisse Schwan verkörpert das Lichte, Unschuldige/Odile, der schwarze Schwan, das Dunkle, Böse) tanzt.
Die berühmtesten Choreographen des 20 und 21. Jahrhunderts nahmen sich des Werks an. Balanchine, Orlikowski, Cranko, Spoerli und Neumeier setzten mit ihren Interpretationen Masstäbe. Sehr erfolgreich und äusserst sehenswert war Matthew Bourne’s SWAN LAKE. Er liess sämtliche Rollen (bis auf die Mutter) von Männern tanzen.
Auch im Film wurden Motive und Szenen aus SCHWANENSEE immer wieder verwendet, so z.B. in BILLY ELLIOTT von Stephen Daldry oder in BLACK SWAN von Darren Aronofsky, mit Natalie Portman.
Karten
TYPO3SEARCH_end
Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, den 06. Februar 2016 Gelesen: 347
Kritik in der NZZ vom 8. Februar 2016 von Martina Wohlthat
Ballettpremiere: «Schwanensee» – rekonstruiert
Kunstvolle Retuschen am Klassiker
Alexei Ratmansky deutet Tschaikowskys Klassiker als tragische Beziehungsgeschichte. Spektakulär ist sein Vorhaben, die Fassung von Marius Petipa und Lew Iwanow von 1895 originalgetreu wiederzubeleben.
Ein Schimmer von Frische und Ursprünglichkeit: Das Ballett Zürich tanzt «Schwanensee» in einer Rekonstruktion von Alexei Ratmansky.
Die Versuche, den Zauber des Balletts «Schwanensee» zu erklären, sind Legion. Dabei scheint alles ganz einfach, der Balletthistoriker Pavel Gershenzon brachte es ironisch auf den Punkt: «Erstens muss die Ballerina im ersten Akt in weisser und im zweiten Akt in schwarzer Bekleidung erscheinen und unbedingt 32 Fouettés drehen. Noch wichtiger ist, dass vier Ballerinen den Tanz der kleinen Schwäne tanzen. Was sie im Endeffekt tanzen, spielt überhaupt keine Rolle, Hauptsache, es ist synchron.» Darauf muss in der Zürcher Version niemand verzichten, es gibt hier aber allerhand Ungewöhnliches zu entdecken.
Schritte aus einer anderen Welt
Jahrzehntelang wurden Aufführungen umgestellt und neu gestaltet, so dass das, was wir heute als «Schwanensee» kennen, nicht mehr viel mit dem Original zu tun hat. Alexei Ratmansky hat am Zürcher Opernhaus nun mithilfe der in den Archiven der Harvard University aufbewahrten Stepanow-Notation und alter Fotografien eine Restaurierung des Balletts unternommen. Er will zeigen, wie «Schwanensee» zwei Jahrzehnte nach der Moskauer Uraufführung in der legendären Fassung von Marius Petipa und seinem Assistenten Lew Iwanow 1895 in St. Petersburg ausgesehen hat.
Eine Entzifferung der alten Aufzeichnungen kann nur einem Choreografen gelingen, der in der Lage ist, die Notate zu interpretieren und unter dem Firnis der Zeit Schicht um Schicht freizulegen. Ratmansky scheint der Richtige dafür zu sein, auch wenn es darum geht, die nicht wenigen Leerstellen der Überlieferung diskret zu retuschieren. Man sollte freilich eher von einer «Restaurierung» als von einer Rekonstruktion sprechen, denn weder Bühnenbild noch Kostüme wurden für die Zürcher Aufführung rekonstruiert.
Für Bühne und Kostüme hat sich der Bühnenbildner Jérôme Kaplan von den Gemälden der Präraffaeliten inspirieren lassen. Man sieht eine Kulissenbühne, das erste Bild im Schlosspark ist bunt, leichtfüssig, fröhlich und etwas betriebsam. Blumenkörbe werden präsentiert, Siegfrieds Freund Benno tanzt mit zwei Mädchen einen zierlichen Pas de trois. Der Lehrer des Prinzen wagt ein Tänzchen mit einer jungen Schönen. Ungewohnt für den heutigen Zuschauer ist der grosse Anteil der Pantomime. Man sieht viel narrative Gestik und Mimik.
Es gilt zu unterscheiden zwischen erzählenden und getanzten Teilen. Dies zieht sich durch das ganze Ballett. Ratmanskys Fassung wirkt auf liebenswürdige Art nostalgisch. Über dem Abend liegt ein Schimmer von Frische und Ursprünglichkeit. Das passt zu der jungen Zürcher Kompanie, die sich die Schritttechnik aus einer versunkenen Welt bewundernswert angeeignet hat. Die Charaktertänze im dritten Bild ähneln tatsächlich folkloristischen Tänzen.
Die zwei «weissen» Akte entwickeln in ihrer Mischung aus Formenstrenge und Poesie reinen Zauber. Die Szene am See spielt vor einer Ruine, im Hintergrund werden künstliche Schwäne über das spiegelnde Wasser gezogen. Das schönste Beispiel für die damals neue Art zu choreografieren, die Lew Iwanow einführte, ist und bleibt der Pas de deux von Odette und Siegfried im zweiten Bild. Auch hier gibt es Überraschendes, wenn Odette zwischendurch in die Arme von Siegfrieds Freund Benno sinkt, während dieser verliebt daneben steht. Die Tanz-Etikette fordert hier ihren Tribut.
Die Figurationen der Schwanenmädchen werden in der Zürcher Fassung weniger häufig von Posen unterbrochen, wirken im Umgang mit dem Raum organisch. Schritte und Gestik sind anders, als wir sie kennen, die Beinwinkel selten höher als neunzig Grad. Die Körperlinien sind weniger überstreckt, die Haltungen grazil – was sicher mit dem Frauenbild des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Viktorina Kapitonova tanzt die Doppelrolle der Odette/Odile mit ätherischer Anmut und ausgefeilter technischer Brillanz. Alexander Jones bleibt als Prinz Siegfried vor allem zuvorkommender Begleiter, überzeugt zugleich in seiner noblen Bühnenpräsenz.
Und wie sehen die Schwanenmädchen aus? Ihre Gesichter sind nicht von Schwanenfedern umrahmt, sondern sie tragen kleine weisse Kappen auf den Korkenzieherlocken, die ihnen lose über den Rücken fallen. Ratmansky geht es um Vermenschlichung: Wir sehen Mädchen, die sich wie Schwäne verhalten und darauf hoffen, ihre menschliche Gestalt für immer wiederzuerlangen. Im Schlussbild sind sie nicht bloss Staffage für das Liebespaar, sondern entzücken das Auge nochmals mit blütenartigen Formen und Tableaus, mit sechs schwarzen Schwänen als Trauerflor. Aus Verzweiflung darüber, dass Siegfried seinen Treueschwur gebrochen hat, stürzt sich Odette in den See, Siegfried folgt ihr. Der Morgen dämmert, im Hintergrund sieht man das Liebespaar in einem Nachen in Schwanenform. Doch im Einklang mit Tschaikowskys in Dur verklingender Musik vertreibt die Liebe den bösen Zauber.
Ein Kunstwerk unserer Zeit
Tschaikowskys Ballettmusik wird konsequenterweise in der von Riccardo Drigo 1895 eingerichteten Fassung von der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Rossen Milanov mit kräftigen Bläserfarben und in schnelleren Tempi als üblich gespielt. Die Partitur wirkt flüssiger, in den dramatischen Passagen drängender. Es gab an der Premiere kleinere Ausreisser im Blech, doch gerade bei den stringent musizierten Soli zeigte sich, wie hoch der Anteil einer stimmigen musikalischen Gestaltung am Ganzen ist. Historische Aufführungspraxis also nicht nur in der Musik, sondern auch auf der Ballettbühne: Damit ist dieses stilvolle Retro-Ballett mit Sicherheit ein Kunstwerk unserer Zeit.